Ich war gestern in der Kleinstadt P. Dort habe ich mich mit meiner Schulfreundin getroffen. Warum gerade in P.? Das war meiner Genialität zu verdanken: Meine Schulfreundin wohnt im Westen Niedersachsens, ich bei Hannover. Da habe ich Google Maps befragt, wo die Mitte ist. Zack: in P. an der Weser. Ich sage Euch: Wenn Ihr ein Treffen mit Menschen plant, die Ihr schon wirklich lange nicht mehr gesehen habt, sucht nicht die Mitte zwischen Euren Wohnorten. Manchmal kommt man zu dem Schluss: Bei solchen Entscheidungen wird die Fairness überbewertet. Hier auch.
Unser Treffpunkt war ein Restaurant vor Ort. Die Homepage behauptete, es sei geöffnet, wurde dann aber von der Realität eingeholt. Schon kam der erste Dämpfer: "Schicken Sie uns Personal, dann öffnen wir." Ähm, ja...
Wie das bei Kleinstädten leider oft der Fall ist, sind sie nicht unbedingt ein Hort überbordener Gastronomie. Da macht P. keine Ausnahme. Also: das Begrüßungskäffchen in der Eisdiele, das Mittagessen in der Außenbestuhlung des genossenschaftlich organisierten kooperativen Unternehmensverbandes gegenüber (was tut man nicht alles, um die Nennung von Firmennamen zu vermeiden) in Sichtweite zum Parkplatz, den "Absacker" in Form von Eis und Kaffee wieder ... na? ...genau: in der Eisdiele.
Der mit Tischgruppen eingerichtete Platz, auf dem wir Mittag gegessen haben, grenzt an den Parkplatz. Wir hatten Glück, überhaupt etwas Warmes bekommen zu haben: Der Stand hatte erst seit heute wieder geöffnet, weil vorher kein Personal gefunden werden konnte. Bemerkenswert, Personalmangel zwei Mal in einer Stunde.
Ein paar Meter weiter, ebenfalls um einen der Tische gruppiert, eine Rentnerrunde, in örtliche Themen vertieft und bis dahin ganz zufrieden. Dann der jähe "Wetterumschwung": Von der Straße nähert sich eine Frau mit zorniger Miene, die flott auf die noch ahnungslose Herrengesellschaft zugeht. "Da bist du ja!", kreischt sie den Männern entgegen. Ihre schrille Stimme ist so, dass man unwillkürlich den Kopf einzieht - und zum gläubigen Christen wird, wenn man nicht schon einer ist: 'Bitte, lieber Gott, lass den Kelch an mir vorübergehen!' Hat bei uns geklappt, bei ihrem Ehemann nicht. Sie stellt sich an den Männertisch, lässt in der immer gleichen Tonlage eine Worttirade auf die armen Kerle niedergehen und wendet sich zur Tür, um sich vom Imbissstand im Gebäude etwas zu holen. Das Geschirr der Männer nimmt sie auf einem Tablett mit, um dann ratlos vor der Tür zu stehen, für die sie nun keine Hand mehr frei hat. "Jetzt KOMM DOCH MAL HIERHER UND MACH DIE TÜR AUF!", blafft sie lauthals ihren Mann an, der eilfertig von seinem Stuhl aufsteht und ihr flugs die Tür öffnet - mit Schweißperlen auf der Stirn und dem Blick eines Fünfjährigen, der im Laden beim Bonbonklauen erwischt wurde. Unsere Stimmung lag irgendwo zwischen Mitleid für den drangsalierten Gatten und Belustigung.
Nun zum Nachtisch. Die Eisdiele hat ihre Terrasse direkt an einem kleinen Verkehrskreisel. Man guckt dem Leben und Treiben von dort aus passiv zu. Ein bisschen so wie auf dem Pariser Champs-Élysées. Ein ganz, ganz kleines bisschen.
18 Uhr: vermutlich Abendbrotzeit. Der Verkehr flaut ab, die Fußgänger werden weniger. Gleitet man in P. jetzt nahtlos in die Abendruhe hinüber? Weit gefehlt. Ab 18.30 Uhr: Ein Gespann aus einem kleinen grünen historischen Traktor (zu dem wir übrigens Trecker sagen, weil "trecken" plattdüütsch ist und "ziehen" bedeutet) und einem Anhänger, auf dem drei verzinkte Tankbehälter sind, wird in der nächsten halben Stunde dreimal den Kreisel passieren. Das Scheppern unterbricht unser Gespräch, wir schauen hinterher. Ein anderer alter Trecker, auch grün, zuckelt immerhin zweimal durch den Kreisel. Ein höllenlauter Motorroller, der einen Anhänger zieht, der mit einem Berg aus Müllsäcken beladen ist, fährt an uns vorbei. Dann zwei- oder dreimal ein Auto mit einem leeren Anhänger, auf dem etwas so heftig scheppert, dass alle anderen Geräusche überlagert werden. Dazwischen viele Pkws, auch ein paar Oldtimer. Etwa um 19 Uhr läuten die Glocken der nahen Kirche. Das ist auch für nicht-motorisierte Menschen ein Startsignal: Aus fast allen Straßen, die auf den Kreisel zu führen, kommen Fußgänger. Die meisten sind junge Leute, die in Grüppchen schlendern. Ein Ziel scheinen sie nicht unbedingt zu haben. Man geht über die Straße, geht wieder zurück... Wie schon bei den Fahrzeugen, die ein paar Mal vor unserer Nase vorbeigefahren sind, drängt sich auch hier die Frage auf: Was machen die eigentlich? Wohin wollen sie?
Beim Blick auf diese Gruppen kommt mir eine Szene in den Sinn, die ich Anfang der 1990er Jahre in einer finnischen Kleinstadt erlebt habe. Der Ort ist im Südwesten Finnlands und schätzungsweise so groß wie P. Herbstanfang, die finnischen Tage schon so kurz wie bei uns die Tage im Winter. Es war früher Abend und fast dunkel. Auf einen etwas außerhalb des Zentrums liegenden gepflasterten Platz, der von Holzhäusern eingerahmt wurde, fuhren Autos. In jedem Auto saßen zwischen zwei und vier junge Leute. Nach und nach wurden es immer mehr Fahrzeuge. Sie stellten sich quer über den Platz seitlich nebeneinander und bildeten so eine Schlange aus zehn oder zwölf Pkws. Eine Weile passierte nichts. Dann, als ob es ein unsichtbares Signal gegeben hätte, wurden alle Autofenster heruntergekurbelt. Der Fahrer an einem Ende der Fahrzeugschlange brüllte den Leuten im Auto neben sich etwas zu, die wiederum transportierten die Nachricht ebenfalls brüllend zum nächsten Auto usw. Die Antwort der Insassen im letzten Fahrzeug wurde auf demselben Weg wieder zum Beginn der Schlange weitergegeben. So ging das hin und her. Immer wieder wurde ein Motor gestartet, wenn es im Auto zu kalt wurde.
Wenn ich heute an diese Szene denke, frage ich mich immer noch, wo der Reiz liegen mag, sich an einem kalten Abend auf einem ziemlich öden Platz zu treffen und schreiend die Zeit zu verbringen. Warum nicht einfach aussteigen und sich direkt unterhalten? Oder irgendwohin gehen, wo es warm ist? Manche Orte bringen Verhaltensweisen hervor, die man nur versteht, wenn man von dort stammt.
Meine Schulfreundin und ich waren uns jedenfalls einig: Das nächste Treffen findet nicht in P. statt. Auch nicht in Finnland. Augen auf bei der Ortswahl! 😉
Unser Treffpunkt war ein Restaurant vor Ort. Die Homepage behauptete, es sei geöffnet, wurde dann aber von der Realität eingeholt. Schon kam der erste Dämpfer: "Schicken Sie uns Personal, dann öffnen wir." Ähm, ja...
Wie das bei Kleinstädten leider oft der Fall ist, sind sie nicht unbedingt ein Hort überbordener Gastronomie. Da macht P. keine Ausnahme. Also: das Begrüßungskäffchen in der Eisdiele, das Mittagessen in der Außenbestuhlung des genossenschaftlich organisierten kooperativen Unternehmensverbandes gegenüber (was tut man nicht alles, um die Nennung von Firmennamen zu vermeiden) in Sichtweite zum Parkplatz, den "Absacker" in Form von Eis und Kaffee wieder ... na? ...genau: in der Eisdiele.
Der mit Tischgruppen eingerichtete Platz, auf dem wir Mittag gegessen haben, grenzt an den Parkplatz. Wir hatten Glück, überhaupt etwas Warmes bekommen zu haben: Der Stand hatte erst seit heute wieder geöffnet, weil vorher kein Personal gefunden werden konnte. Bemerkenswert, Personalmangel zwei Mal in einer Stunde.
Ein paar Meter weiter, ebenfalls um einen der Tische gruppiert, eine Rentnerrunde, in örtliche Themen vertieft und bis dahin ganz zufrieden. Dann der jähe "Wetterumschwung": Von der Straße nähert sich eine Frau mit zorniger Miene, die flott auf die noch ahnungslose Herrengesellschaft zugeht. "Da bist du ja!", kreischt sie den Männern entgegen. Ihre schrille Stimme ist so, dass man unwillkürlich den Kopf einzieht - und zum gläubigen Christen wird, wenn man nicht schon einer ist: 'Bitte, lieber Gott, lass den Kelch an mir vorübergehen!' Hat bei uns geklappt, bei ihrem Ehemann nicht. Sie stellt sich an den Männertisch, lässt in der immer gleichen Tonlage eine Worttirade auf die armen Kerle niedergehen und wendet sich zur Tür, um sich vom Imbissstand im Gebäude etwas zu holen. Das Geschirr der Männer nimmt sie auf einem Tablett mit, um dann ratlos vor der Tür zu stehen, für die sie nun keine Hand mehr frei hat. "Jetzt KOMM DOCH MAL HIERHER UND MACH DIE TÜR AUF!", blafft sie lauthals ihren Mann an, der eilfertig von seinem Stuhl aufsteht und ihr flugs die Tür öffnet - mit Schweißperlen auf der Stirn und dem Blick eines Fünfjährigen, der im Laden beim Bonbonklauen erwischt wurde. Unsere Stimmung lag irgendwo zwischen Mitleid für den drangsalierten Gatten und Belustigung.
Nun zum Nachtisch. Die Eisdiele hat ihre Terrasse direkt an einem kleinen Verkehrskreisel. Man guckt dem Leben und Treiben von dort aus passiv zu. Ein bisschen so wie auf dem Pariser Champs-Élysées. Ein ganz, ganz kleines bisschen.
18 Uhr: vermutlich Abendbrotzeit. Der Verkehr flaut ab, die Fußgänger werden weniger. Gleitet man in P. jetzt nahtlos in die Abendruhe hinüber? Weit gefehlt. Ab 18.30 Uhr: Ein Gespann aus einem kleinen grünen historischen Traktor (zu dem wir übrigens Trecker sagen, weil "trecken" plattdüütsch ist und "ziehen" bedeutet) und einem Anhänger, auf dem drei verzinkte Tankbehälter sind, wird in der nächsten halben Stunde dreimal den Kreisel passieren. Das Scheppern unterbricht unser Gespräch, wir schauen hinterher. Ein anderer alter Trecker, auch grün, zuckelt immerhin zweimal durch den Kreisel. Ein höllenlauter Motorroller, der einen Anhänger zieht, der mit einem Berg aus Müllsäcken beladen ist, fährt an uns vorbei. Dann zwei- oder dreimal ein Auto mit einem leeren Anhänger, auf dem etwas so heftig scheppert, dass alle anderen Geräusche überlagert werden. Dazwischen viele Pkws, auch ein paar Oldtimer. Etwa um 19 Uhr läuten die Glocken der nahen Kirche. Das ist auch für nicht-motorisierte Menschen ein Startsignal: Aus fast allen Straßen, die auf den Kreisel zu führen, kommen Fußgänger. Die meisten sind junge Leute, die in Grüppchen schlendern. Ein Ziel scheinen sie nicht unbedingt zu haben. Man geht über die Straße, geht wieder zurück... Wie schon bei den Fahrzeugen, die ein paar Mal vor unserer Nase vorbeigefahren sind, drängt sich auch hier die Frage auf: Was machen die eigentlich? Wohin wollen sie?
Beim Blick auf diese Gruppen kommt mir eine Szene in den Sinn, die ich Anfang der 1990er Jahre in einer finnischen Kleinstadt erlebt habe. Der Ort ist im Südwesten Finnlands und schätzungsweise so groß wie P. Herbstanfang, die finnischen Tage schon so kurz wie bei uns die Tage im Winter. Es war früher Abend und fast dunkel. Auf einen etwas außerhalb des Zentrums liegenden gepflasterten Platz, der von Holzhäusern eingerahmt wurde, fuhren Autos. In jedem Auto saßen zwischen zwei und vier junge Leute. Nach und nach wurden es immer mehr Fahrzeuge. Sie stellten sich quer über den Platz seitlich nebeneinander und bildeten so eine Schlange aus zehn oder zwölf Pkws. Eine Weile passierte nichts. Dann, als ob es ein unsichtbares Signal gegeben hätte, wurden alle Autofenster heruntergekurbelt. Der Fahrer an einem Ende der Fahrzeugschlange brüllte den Leuten im Auto neben sich etwas zu, die wiederum transportierten die Nachricht ebenfalls brüllend zum nächsten Auto usw. Die Antwort der Insassen im letzten Fahrzeug wurde auf demselben Weg wieder zum Beginn der Schlange weitergegeben. So ging das hin und her. Immer wieder wurde ein Motor gestartet, wenn es im Auto zu kalt wurde.
Wenn ich heute an diese Szene denke, frage ich mich immer noch, wo der Reiz liegen mag, sich an einem kalten Abend auf einem ziemlich öden Platz zu treffen und schreiend die Zeit zu verbringen. Warum nicht einfach aussteigen und sich direkt unterhalten? Oder irgendwohin gehen, wo es warm ist? Manche Orte bringen Verhaltensweisen hervor, die man nur versteht, wenn man von dort stammt.
Meine Schulfreundin und ich waren uns jedenfalls einig: Das nächste Treffen findet nicht in P. statt. Auch nicht in Finnland. Augen auf bei der Ortswahl! 😉
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