"Du blöde Sau!"

Ich lese regelmäßig Zeitung. Eine Tages- und eine
© Stephanie Hofschlaeger/pixelio.de
Wochenzeitung. Dazu Artikel, die die Presse über die sozialen Netzwerke bereitstellt. Gerade, wenn es um Themen geht, die viele Menschen bewegen, äußern zahlreiche Leser ihre Meinung. Bei den Zeitungen heißt so etwas Leserbrief, im Internet Kommentar. Hier wie dort ist der Grund, einen Artikel zu kommentieren, dass man emotional angesprochen wird; entweder, weil man findet, dass der Autor des Artikels etwas falsch sieht oder Wesentliches ausgelassen hat oder man sich verstanden fühlt: Endlich schreibt mal jemand über ein Thema, das man wirklich wichtig findet.

Solche Rückmeldungen von Lesern sind wichtig, weil sie nicht nur anderen Lesern, sondern auch den Autoren der angesprochenen Beiträge zeigen können, ob man tatsächlich alle Facetten eines Themas "auf dem Schirm" hatte.

Aber es gibt da einen Unterschied zwischen Leserbriefen und Kommentaren, den ich nicht verstehe. 
Menschen, die Leserbriefe an die Redaktion einer Zeitung schreiben, kommen so gut wie immer ohne Beleidigungen und andere verbale Entgleisungen aus. Ich schreibe "so gut wie immer", weil ich ja durchaus so etwas übersehen haben kann, gelesen habe ich das bisher jedenfalls noch nie. Ja, man wird deutlich, oft ist der Ärger der Leserbriefschreiber nicht zu übersehen, aber wenn man den kommentierten Artikel für kompletten Nonsens hält, schreibt man dort nicht "Du blöde Sau hast nichts verstanden! Hast Du Dein Hirn im Klo runtergespült?". Nie. Entgegengesetzte Meinungen würden sich in Formulierungen wie "Ich kann mir nicht erklären, wie der Redakteur XY auf dieses Ergebnis kommt" oder "Ich hätte mir bei diesem sensiblen Thema eine intensivere Recherche gewünscht" äußern. Es wird klar, dass der Schreiber mit dem Inhalt eines Artikels nicht einverstanden ist, aber die Kritik wird zwar deutlich, aber nicht als verbale Entgleisung formuliert.

Ganz anders die Tonlage im Internet. Hier zu behaupten, 
dass die Kommentatoren kein Blatt vor den Mund nehmen, wäre die Untertreibung des Jahres. Eben gesehen: "Geh Ziegen ficken, Du Hurensohn!" Stand unter einem Post im Netzwerk mit dem großen G. In dem mit dem großen F findet sich Ähnliches. Nicht immer und überall, aber doch in einer Häufung, dass man sich fragen muss, was mit Leuten, die so etwas schreiben, eigentlich los ist. Es gibt bereits Erklärungsansätze, die dem Phänomen auf die Spur kommen wollen. Dort ist dann davon die Rede, dass das Internet durch seine Anonymität den Boden für solche Beschimpfungen bereitet. Das mag auf viele der Kommentatoren zutreffen, auf eine sehr große Zahl aber nicht: Da gibt es reale Personen, deren Leben man beim großen F oder G die letzten Jahre zurückverfolgen kann, die aber hemmungslos mit Worten wie mit einer Streitaxt um sich schlagen.

Bei einer lokalen Tageszeitung gibt es die Gefahr, dass Freunde, Nachbarn oder Kollegen den Sch... lesen könnten, den man in einem Leserbrief absondert. Diese Vorstellung, sich anschließend missfälligen Blicken oder kritischen Fragen stellen zu müssen, wirkt sicher bei vielen disziplinierend. Sozialkontrolle heißt so etwas dann. Das Argument passt aber nicht mehr auf überregionale Zeitungen: Dort ist die Wahrscheinlichkeit, "erkannt" zu werden, ziemlich gering.
Ich habe keine Ahnung, warum Menschen einen Unterschied zwischen Leserbriefen und Internet-Kommentaren machen, wenn sie Kritik üben wollen, bin aber gespannt, ob Ihr eine Idee habt.

Kommentare

  1. Gute Frage. Da gibt es sicherlich viele Antworten. Die Anonymität im Netz ist sicherlich eine, aber auch die Tatsache, dass Redaktionen Leserbriefe sortieren. Beleidigendes und Ausfallendes wird schlicht nicht gedruckt. Ich habe schon oft von Redakteur/inn/en gehört, dass sie beleidigende Leserbriefe und schlimme Drohungen auch offline bekommen haben. Die druckt die Zeitung dann allerdings nicht ab. Im Netz kann jede/r alles absondern.

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    1. Mit dem Vorsortieren wirst du recht haben. Aber was ist das für ein schwaches Bild, dass die Admins in Gruppen und Communities nicht einschreiten? Ich kenne einige, die das tun, aber besonders Facebook- oder Google+-Gruppen, die das Wort "Politik" im Namen führen, sind für verbale Ausfälle, die nicht gelöscht werden, anfällig. Über die Effektivität der sog. Content Manager muss da gar nicht geredet werden. Was aber bleibt: In Leserbriefen ist die Ausdrucksweise überwiegend deutlich besser. Was zur nächsten Frage führt: Wer liest Zeitung?

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  2. Ich kann mich Roberts Kommentar nur anschließen. Auch ich habe von Redakteuren gehört, was für üble Mails sie oft erhalten. Aber Du hast natürlich recht, Ina, wenn Du darauf hinweist, dass es in den Communities Admins gibt, die einschreiten müssten.

    In manchen Communities, die relativ überschaubar sind, ist das der Fall. Aber in den großen Portalen ...

    Mir selbst stellt sich eigentlich nicht die Frage, wer Zeitung liest. Die Vielfalt der Blätter ist zu groß; da ist für jeden etwas dabei. Mir stellen sich vielmehr die Fragen:

    Woher kommt all der Hass, der in den Medien geäußert wird?
    Warum gehen so viele Menschen davon aus, dass ihre Meinung die einzig gültige ist?
    Warum nehmen sich so viele Menschen das Recht, andere wie wild zu beschimpfen, zu verunglimpfen und zu verleumden?
    Und nicht zuletzt: Wohin geht unsere Gesellschaft?
    Wie können wir das Blatt wenden?
    Ist das überhaupt noch möglich?

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    1. Ich lese gerade ein Buch, das sich mit diesen Fragen beschäftigt und das ich demnächst in der Bücherkiste vorstellen werde. Aber was die verbalen Ausfälle betrifft: Dass Politiker bis hinunter auf die Ortsebene darunter leiden, ist bekannt. Schmähungen gegen Jornalisten sind mir bis jetzt nur bekannt geworden, wenn sie sich gegen prominente Personen wie z. B. Dunja Halaly richten. Aber sieht das bei der Lokalpresse genauso aus, wenn z. B. ein Redakteur über eine Feier in einem Flüchtlingsheim berichtet?

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  3. Nach meinen Informationen ist das so. Und zwar nicht erst in der "Neuzeit" und nicht nur bei Artikeln, die sich mit politischen Themen befassen.

    Ein Freund von mir war Sportreporter bei einer Hamburger Tageszeitung. Als Tennisexperte hatte er sich vor gut 30 Jahren in einem Artikel eine sachlich-kritische Anmerkung zu Boris Becker erlaubt. Daraufhin wurde er mit übelsten Telefonanrufen bombardiert. Er musste seine Nummer löschen lassen und eine Geheimnummer beantragen.

    Ein anderer Freund von mir ist politischer Redakteur bei der Tageszeitung einer nicht allzu großen Stadt in Baden-Württemberg. Auch er ist immer wieder unglaublichen Anfeindungen ausgesetzt, wenn er einen Artikel zum Thema Flüchtlinge schreibt.

    Und von beiden weiß ich, dass sie keine Einzelfälle sind. Sie haben mir über die Jahre immer wieder von ähnlichen Fällen berichtet, die ihre Kollegen betrafen.

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