Ärztesterben

In der Kleinstadt, in der ich lebe, gibt es ein schleichendes Ärztesterben. Nein, ich meine nicht, dass ein Mediziner nach dem anderen sein Leben aushaucht, sondern, dass innerhalb weniger Jahre mehrere Praxen geschlossen haben oder absehbar schließen werden. Zum Teil ist das schon Knall auf Fall passiert. Zumindest hat es sich für mich so dargestellt.

Ich war viele Jahre Patientin bei einer Frauenärztin. Sie
machte ihren Job so, wie ich das mag: Ihre Untersuchungen waren gründlich, ich bekam immer kompetente, klare und gut verständliche Auskünfte. Sie war ein sehr sachlicher Mensch. Damit kann ich gut umgehen. Ein Arzt soll nicht mein bester Freund sein, dessen Augen bei meinem Anblick vor Glück strahlen. Er sollte ein versierter Berater auf seinem Gebiet sein. Okay, normale Umgangsformen und ein Mindestmaß an Einfühlungsvermögen sind auch nicht zu verachten.
Vor zwei Jahren habe ich meine Frauenärztin zum letzten Mal gesehen, bei der ich 15 oder 20 Jahre in Behandlung war. Ich hatte einen Termin, und als wir fertig und bei der Verabschiedung angekommen waren, sagte sie: "Liebe Frau Degenaar, wir sehen uns heute zum letzten Mal. Zum nächsten Ersten gehe ich in den Ruhestand." Sie lächelte. Hätte ich an ihrer Stelle auch gemacht. Nach Jahrzehnten, die man in zahllose Vaginas geguckt und Ultraschallaufnahmen von Gebärmüttern gemacht hat, darf dann auch mal Schluss sein. Aber ich gebe zu, dass ich gleich nach meinen guten Wünschen für ihr weiteres Leben, schon als ich die Praxis verließ, dachte: "Mist, wohin gehst du denn jetzt?" Die Praxis wurde von zwei jungen Gynäkologinnen übernommen. Es wäre kein Problem gewesen, einfach weiter dort hinzugehen. Aber wie es der Zufall wollte, saß ich ein paar Wochen später beim Frisör. Die junge Frisörin, die gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger war, erzählte mir, dass sie bei einer von beiden zur Vosorge gewesen und ihr so eine gefühllose Ärztin noch nicht untergekommen sei. Na toll. Mehr Werbung geht nicht.

© Martin Büdenbender/pixelio.de
Im März waren wir zwei Wochen im Urlaub. Als wir wieder nach Hause kamen, guckte ich in unserem Gemeindeblättchen nach, was sich um uns herum so getan hatte. Unübersehbar war da ein Inserat: Unser Hausarzt, zu dem wir schon mehr als 20 Jahre gegangen waren, würde aufhören. Praxisübergabe war schon einen Monat später. Es gab keine Chance, sich von ihm zu verabschieden: Er, der in all den Jahren so gut wie nie krank geworden war, kurierte nun zu Hause seine Grippe aus. Das hat uns alle geschockt. Unser Hausarzt wusste immer, wo wir so unsere gesundheitlichen Probleme haben und konnte uns alle zuordnen, obwohl mein Mann, meine Kinder, meine Mutter und ich insgesamt drei verschiedene Nachnamen haben. Jetzt war er weg. Wohin jetzt? In der Nähe gibt es zwei andere Hausarztpraxen: Die Chefin der einen ist nicht unbedingt für ihre empathische Grundhaltung bekannt. Die Inhaber der anderen sind etwa so alt wie unser bisheriger Hausarzt, es ist also eine Frage der Zeit, wann sie zum letzten Mal die Tür zu ihrem Wartezimmer öffnen. Tja.

Mein Orthopäde, den ich ebenfalls schon sehr lange kenne: Er ist Mitte 60, da kann man sich an seinen zehn Fingern abzählen, wann er aufhören wird.
Mein Zahnarzt: Dieselbe Altersgruppe und auch eine ganz ähnliche Zahl von Jahren, die wir uns schon kennen. 

Ich finde das sehr schwierig, nach einer so langen Zeit zu
einem anderen Arzt zu wechseln. Mein Orthopäde beispielsweise kennt meine lange Krankengeschichte, ohne dass er vorher in seine Unterlagen schauen muss. Ich habe das Gefühl, dass ich, wenn er nicht mehr da ist und ich zu einem anderen Orthopäden gehe, praktisch wieder bei null anfangen muss. 'Warum ist dieses nicht gemacht worden?' - 'Hat man das schon mal versucht?' Mein jetziger Orthopäde sagt einfach nur: "Ich helfe Ihnen, wo ich kann." 

Manchmal denke ich, ich habe da echt ein Luxusproblem. Es geht ja nicht darum, dass wir hier mit Fachärzten aller denkbaren Fachbereiche unterversorgt wären. Mitnichten. Aber bei einem Arzt lange zu bleiben, ist Vertrauenssache. Er ist nicht einfach so austauschbar. Und deshalb hoffe ich ganz egoistisch, dass auch die "Wackelkandidaten" noch eine Weile weitermachen.

Kommentare

  1. Deinen Egoismus teile ich uneingeschränkt!

    Auch mein Gynäkologe und mein Hausarzt sind nach rund 30 bzw. 25 Jahren, die ich bei ihnen war, in den Ruhestand gegangen. Trotz guter Nachfolger weine ich ihnen viele Tränen nach. Sie waren Ärztepersönlichkeiten, wie man sie heute wohl kaum noch antrifft.

    Ich wünsche Dir, dass Du neue Ärzte findest, die fachlich versiert sind und menschlich zu Dir passen. Denn zu einem Arzt muss man doch ein anderes Verhältnis aufbauen können als zu Menschen anderer Berufsgruppen, mit denen man im Laufe seines Lebens zu tun hat.

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