Wie direkt darf man sein?

Ehrlichkeit und Offenheit sind zwei Tugenden, die die meisten von uns wertschätzen. Niemand möchte belogen werden oder von seinem Gegenüber den Eindruck haben, er habe etwas zu verbergen.
Eng verwandt mit diesen beiden Eigenschaften ist die Direktheit: Jemand nimmt etwas an seinen Mitmenschen wahr und spricht diese unmittelbar darauf an. Das kann hilfreich sein, wenn ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass ich auf der Parkbank meine Handtasche vergessen habe. Eltern, die es damit in die Tagespresse geschafft haben, dass sie ihr Kind an der Raststätte vergessen haben, wären über eine Portion Direktheit zur rechten Zeit ("Ich würd' den Lütten ja mitnehmen" oder so ähnlich) sicher ziemlich dankbar gewesen.

Aber es gibt die Art von Direktheit, die zwischen zwei
Nein, das ist nicht meine Tochter.
Menschen sofort ein Gefälle herstellt. Als meine Tochter vielleicht drei oder vier Jahre alt war, war sie zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Kleine Mädchen putzen sich gern heraus, und so stand sie auf mich wartend mit einem Geschenk in der Hand vor dem Haus: Die Haare waren frisiert, sie trug ein hübsches Kleid und strahlte jede Menge Vorfreude aus. Während ich die Haustür abschloss, näherte sich ihr ein älterer Mann. Er sah sie, tätschelte ihr die Wange, strich ihr übers Haar und sagte so etwas wie "Na, Du bist ja eine Niedliche!". Ja, es war nett gemeint. Umso irritierter war der Rentner, als meine Tochter erstarrte und ihn stumm mit großen Augen ansah. "Was hat sie denn?", fragte er erstaunt. "Na ja", habe ich geantwortet, "wie würden Sie sich fühlen, wenn ich Ihnen jetzt die Wange streichle? Wir kennen uns doch nicht." Das war offensichtlich ein Sache der jeweiligen Generation: Ich kann mich gut erinnern, wie mir als kleinem Mädchen Erwachsene, die ich oft noch nicht einmal leiden konnte, in die Wange kniffen oder mich ungefragt auf ihren Schoß setzten. Es war einfach nur schrecklich. Deshalb habe ich meinen Kindern immer gesagt, dass nur sie selbst darüber entscheiden, wer sie anfassen darf. Der Mann ist jedenfalls kopfschüttelnd weitergegangen und hat mich vermutlich für eine überspannte Schnepfe gehalten.


Aber unerwünschte Direktheit gibt es natürlich auch
unter Erwachsenen. Früher habe ich immer mal wieder Leute erlebt, die mich plump mit "Was hast'n Du?" ansprachen. Das ist glücklicherweise vorbei. Vor einigen Jahren hatte ich aber so etwas wie ein Déjà-vu: Mein Mann und ich waren zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Die Zahl der Gäste, die wir kannten, konnten wir locker mit einer Hand zählen. Am frühen Morgen war noch der harte Kern übrig, zum Teil ziemlich gut abgefüllt. Da beugte sich mein Sitznachbar zu mir, dem ich an diesem Abend zum ersten Mal begegnet war, und fragte mich: "Sag mal, was ist denn mit Dir los?" Ich versuchte es zuerst damit, mich dumm zu stellen, das half aber nicht. "Na, Du weißt schon", hakte er nach und nickte mit dem Kopf in Richtung meiner Beine. 
"Darüber will ich nicht reden!" Diese Antwort lässt jeden emotional Normalbegabten sofort schweigen, bei meinem 'Gesprächspartner' war das normale Sozialverhalten jedoch von Bier und Schnäpsen überflutet worden. Er wurde lauter, sein Tonfall ungeduldig: "Kannste doch ruhig sagen! Ist doch nichts dabei!" Er hatte jetzt sein Publikum. Ich sah allerdings noch immer keinen Grund, meine Krankengeschichte wie ein Tischtuch auszubreiten. Die Stimmung war nun dahin.

Klar, man kann darüber diskutieren, ob so etwas noch unter Direktheit fällt und nicht schon eher Unverfrorenheit ist. Aber diese unangenehme Art und Weise, Menschen auf die Pelle zu rücken, muss sich niemand gefallen lassen. Sehr oft ist mit dieser Art der Direktheit auch eine gewisse Respektlosigkeit seinen Mitmenschen oder einer bestimmten Person gegenüber gepaart. Nichts, was ich bereit wäre, zu unterstützen.
Ich bin übrigens auch nicht bereit, jedes Fehlverhalten, das besoffen begangen worden ist, eben damit zu entschuldigen. Die meisten Erwachsenen wissen, wie viel sie vertragen und können früh genug mit dem Saufen aufhören. Doch das ist ein anderes Thema.

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Kürzlich las ich ein Interview, das mit Laura Gehlhaar, die ich als Behindertenaktivistin bezeichnen würde, geführt wurde. Sie ist Rollstuhlfahrerin, Mitte 30, Sozialpädagogin, arbeitet als Coach, hat einen nicht-behinderten Freund und sieht gut aus. Finde ich zumindest. Sie erzählte, dass sie von fremden Leuten darauf angesprochen wird, wie das so läuft mit dem Sex zwischen ihr und ihrem Freund. So etwas macht mich fassungslos. Werdet ihr von Krethi und Plethi darauf angesprochen, was ihr so Schönes in der Horizontalen treibt? Das verlässt für mich ganz klar den Bereich der Direktheit und geht direkt zur Unverschämtheit über.Oder bodenlosen Empathielosigkeit.

Ist Euch schon einmal etwas Ähnliches passiert? Und wie habt Ihr darauf reagiert, wenn jemand die Grenze zwischen ihm und Euch überschritten hat?

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