Über den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen

Mit Erinnerungen ist das so eine Sache: Je länger ein Ereignis her ist, umso stärker wird es positiv umwabert. Dinge, die wirklich schlecht gelaufen sind, können ganz langsam im Laufe von Jahren ihren Schrecken verlieren, bis man ihnen im besten Fall sogar etwas Gutes abgewinnen kann. Das soll so sein, sagt die Wissenschaft, damit wir angesichts der Fülle von Situationen, in denen wir Frustrierendes erlebt haben, nicht schon ab dem frühen Kindesalter psychische Wracks sind.

Interessant wird es, wenn es um Erinnerungen geht, die eine Person quasi für sich gepachtet hat. In meinem Umfeld gab es einmal eine Frau, deren älteste Tochter etwa so alt ist wie ich. Diese Frau hob oft das phänomenale Gedächtnis ihres nun erwachsenen Kindes hervor: "Was W. noch alles weiß!" W. wusste zum Beispiel noch so, als sei es gestern gewesen, dass sie als Dreijährige im Urlaub auf einer Nordseeinsel einen ganz bestimmten Rock getragen hatte. Ich glaube, er war rot, traue da meiner Erinnerung aber nicht ganz. Dieser Umstand, dass der Rock und sein Aussehen über Jahrzehnte nicht vergessen wurden, war Beleg genug, sich über die geistige Leistungsfähigkeit der Tochter zu freuen. Der Haken war allerdings, dass nur W. sich an den Rock in Kombination mit der Nordseeinsel erinnerte. Nicht die Geschwister, nicht der Vater. Die Ahnung, dass man ihr auch einen blauen oder gestreiften Rock als untrügliche Erinnerung abgenommen hätte, lag nahe. Solange sich das gute Stück im Kleiderfundus befunden hätte, war alles möglich.

Allerdings habe ich mich schon oft selbst in der Rolle der W. wiedergefunden, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Es gibt einige Menschen, zu denen ich schon seit Jahrzehnten einen engen Kontakt habe, meistens durch die gemeinsame Schulzeit. Die Gelegenheit, über zusammen Erlebtes zu reden und Vergangenes wieder aufzufrischen, ist also immer wieder da. Oft sagt mir jedoch beispielsweise meine Freundin, mit der ich seit fast 40 Jahren befreundet bin, "was Du alles noch weißt!" Ich stutze dann und frage mich, ob das, was ich gerade völlig überzeugt, etwas Korrektes zu sagen, von mir gegeben habe, auch korrekt ist. Hat es diese eine Anekdote mit dem Lehrer XY wirklich so gegeben, wie ich sie erzählt habe? Haben sich zwei Mitschüler aus den Gründen zerstritten, die mir geistig vor Augen stehen? Das kann heute kaum noch nachgeprüft werden. Meine Freundin vertraut bei diesen alten Geschichten meinem guten Gedächtnis, während mich hin und wieder ein Zweifel beschleicht, wenn sie sich an meine alten Geschichten nicht erinnert.

Und dann stellt sich mir die entscheidende Frage: Was sind Erinnerungen wert, die außer einer einzigen Person niemand anders teilt? Ist es nicht so, dass man - zumindest ein bisschen - am Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerung zweifeln und sie nicht mit Händen und Füßen verteidigen sollte? Spätestens dann, wenn andere Menschen unterschiedliche oder sogar überhaupt keine Erinnerungen an bestimmte Ereignisse haben? Im schlimmsten Fall habe ich mir mein ganzes Leben nur zusammenfantasiert, alles ist Lug und Trug. Aber ich kann ja immer noch die fragen, die mich gut kennen, und mich bei ihnen vergewissern, dass meine Erinnerungen stimmen. Und dabei hoffen, dass auch sie nicht ihren Hirngespinsten erlegen sind oder meine Erinnerungen manipuliert haben, wie es in diesem Video beschrieben wird 😉





Habt Ihr Lust, in Eurem Gedächtnis zu kramen und von den Ereignissen zu erzählen, an die Ihr Euch am deutlichsten erinnert?

Kommentare

  1. Erinnerungen sind für jeden Einzelnen sehr individuell und sehr wichtig.
    Ich habe von einem jungen Mann gehört, der nach einem Unfall unter Amnesie leidet und in wahrsten Sinne des Wortes leidet. Nicht nur, dass er Eltern, Familie und Freunde nicht mehr kennt, er weiß auch ganz einfache Dinge nicht mehr. Wie als Kind einmal Gras geschmeckt hat oder wie er sich am 1. Schultag gefühlt hat. Man muss solche Erinnerungen nicht mit jemanden teilen können, sie sind für andere Leute auch nutzlos oder uninteressant. Sie sind für einen selbst prägend gewesen.
    Das mit dem roten Rock kann ich nachvollziehen, ich habe ähnliche "sinnlose" Erinnerungen aus der Kindheit oder Jugend, die niemand bestätigen kann.
    Aber vielleicht hat es die Mutter ein wenig hoch aufgehängt. ;-)
    LG Sabienes

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    1. Das hat sie ganz sicher. Es war der quasi "ewige Beweis" dafür, wie intelligent ihre Tochter ist. Was Du sagst, ist völlig richtig: Erinnerungen prägen uns und machen uns zu dem, was wir sind. Jemand, der unter einer Amnesie leidet, befindet sich in dieser Hinsicht in einem Zustand, den man vielleicht mit einem luftleeren Raum vergleichen kann. Das Schlimme ist dabei ja zusätzlich, dass man ihm in diesem Zustand alles Mögliche als Wahrheit unterjubeln kann. LG, Ina

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