Ist gucken erlaubt?

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Ihr sitzt in einem Eiscafé und es gehen zwei Punks vorbei: klassischer Hahnenkamm, bunt gefärbte Haare, reichlich Piercings und so weiter. Guckt Ihr hin? 
Ihr sitzt im Linienbus und es steigt jemand ein, der offensichtlich mit einem Hautproblem zu kämpfen hat: Akne im Gesicht, am Hals sind Anzeichen von Schuppenflechte zu sehen. Guckt Ihr hin?
In der Fußgängerzone kommt Euch ein Mann entgegen, der wegen eines steifen Beins einen schaukelnden Gang hat und sich den Arm derselben Seite rechtwinklig vor den Körper hält. Guckt Ihr hin?

Ich gucke hin. Ich gucke so lange hin, wie es nötig ist, um die Situation für mich einzuordnen. Das ist normal und in unserer evolutionären Geschichte verankert. Wer sich zwingt, Menschen, die von der Norm - oder dem, was allgemein für "die Norm" gehalten wird - abweichen, nicht anzusehen, behandelt sie so, als seien sie nicht da. Wie Luft oder ein frisch geputztes Fenster, durch das man regungslos hindurch-, es aber nicht anschaut. Menschen, die auf diese bewusste Weise nicht angesehen werden, weil es ihren Mitmenschen peinlich ist oder sie mit deren Anderssein nicht umgehen können, fühlen sich ausgegrenzt. Bewusstes Wegsehen vermittelt die Botschaft "Du bist gar nicht da". Niemand will dieses Gefühl vermittelt bekommen. Aber ich weiß, dass manche Eltern, die von ihrem Kind gefragt werden, warum denn der Mann oder die Frau "so" aussieht, verlegen raunen "Guck da nicht so hin!". So, als würde das, was da irgendwie anders ist, sich in Rauch auflösen, wenn man es nur lange genug ignoriert. Oder als sei es eine ansteckende Krankheit, vor der man sich am besten durch Nichtbeachtung schützt.

Wo hört bloßes Gucken auf?

 

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Es gibt einen Unterschied zwischen "bloß kurz gucken" und starren. Starren drückt in vielen Fällen unverhohlene Neugier aus. Immer dann nämlich, wenn jemand gefühlt negativ von der allgemein gewohnten und akzeptierten Norm abweicht. 
Ein anderes Motiv fürs Starren kann große Bewunderung sein, aber das ist hier nicht das Thema. "Negatives Starren" hat für die Angestarrten die Wirkung, sich nicht nur anders, sondern herabgesetzt zu fühlen. Im schlimmsten Fall passt sich die Mimik des Starrers entsprechend an und man kann in seinem Gesicht wie in einem Buch lesen: "Was ist denn mit dem/der los?" Da braucht einem niemand mit so klugen Sätzen zu kommen "Wer sich so benimmt, will andere/vermeintlich schwächere Menschen erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Das sind Leute mit einem schwachen Selbstbewusstsein". Ganz toll. Mag ja stimmen, hilft aber dem oder der in der Rolle des Starropfers null weiter. 

Was hilft, habe ich mal gelernt, als ich mit 14 mit meiner Klasse eine Woche im Landschulheim war. Wir waren auf dem Weg ins Freibad und mussten auf dem Fußweg an einer Baustelle vorbei, in der drei Bauarbeiter geschaufelt haben. Ich ging zwischen zwei Freundinnen. Als sie uns sahen, hielten die drei Arbeiter in der Baugrube inne und starrten uns entgegen. Ihnen war komplett egal, dass wir das gemerkt haben. Nach kurzer Zeit war uns klar, auf wen von uns sich ihre Aufmerksamkeit konzentriert hatte: Auf die in der Mitte. Ich war drauf und dran, einen Bogen um die Baustelle zu machen, als eine meiner Freundinnen uns zuraunte: "Los! Wir gehen da jetzt hin und gucken zurück!" In einer Reihe haben wir dann minutenlang am Rand der Baugrube gestanden, stumm, und die drei Männer mit unbewegter Miene angesehen. Es war für eine kurze Zeit so, als gäbe es nur uns sechs auf der Welt. Und es klappte: Nach einem kurzen Räuspern und einem hilflosen Blick auf seine Kollegen fing einer von ihnen wieder an zu arbeiten. Mit roten Köpfen haben auch die anderen beiden mit dem, was sie unterbrochen hatten, weitergemacht.
Das ist jetzt fast 40 Jahre her, aber die Methode klappt immer noch. Menschen fühlen sich ertappt, wenn sie beim neugierigen Starren erwischt werden, was im Übrigen nichts mit positivem Interesse zu tun hat. Im Rückblick sage ich: Cordula, wenn Du das hier liest, danke! 

Dem hier unten ist es übrigens wurscht, ob er angestarrt wird. Wahrscheinlich will er das sogar 😉

 

Kommentare

  1. Feiner Text. <3
    Ich gucke auch hin - sehr aufmerksam - manchmal drehe ich mich sogar um und schaue hinterher. Freundlich, fröhlich, mitfühlend oder mit einem frechen Spruch - je nach Situation bzw. Person, die meine Aufmerksamkeit erregte. ;)

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    1. Vielen Dank :-) Ich gehe jetzt einfach mal positiv davon aus, dass "mitfühlend" etwas anderes ist als "mitleidig". Zwischen den beiden ist nur ein schmaler Grat. LG

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  2. Sehr schwierige Frage. Ich denke, es kommt immer auf den Einzelfall an.

    Bei Menschen mit starker Akne gucke ich grundsätzlich nicht, weil ich von betroffenen Verwandten und Bekannten weiß, dass sie als Jugendliche sehr unter ihrer Akne gelitten haben und am liebsten "nicht gesehen" werden wollten.

    In meinem Fitnessstudio gibt es unzählige Frauen mit großformatigen kunstvollen Tätowierungen. Auch wenn ich selbst absolut kein Fan von Tattoos bin, gucke ich da gerne hin. Auf den Tipp einer stark tätowierten Freundin hin spreche ich diese Frauen an, sage ihnen, dass ich ihr Tattoo sehr interessant finde, und frage, ob ich mal genauer hingucken darf. Die Reaktionen sind durchweg positiv.

    Bei den tätowierten Herren der Schöpfung dagegen gucke ich lieber nicht hin ... ;-) Sie gucken meist sehr grantig. Genauso geht es mir mit Männern mit extrem vielen Piercings. Zumindest in Hamburg sind das oft sehr finster dreinblickende Gestalten. Da können Blicke als Provokation aufgefasst werden und durchaus zu Handgreiflichkeiten führen.

    Für ein langes Gucken schäme ich mich heute noch, obwohl es Jahrzehnte her ist:
    Ich war mit einer Freundin essen. Während sie noch mal zur Toilette ging, zog ich mir den Mantel an. Da fiel mir eine Frau auf, die ungefähr in meinem Alter war. Eine echte Schönheit, sie erinnerte mich an Schneewittchen. Ein sehr ebenmäßiges Gesicht, volle Lippen mit tiefrotem Lippenstift, auffallend dichtes, langes schwarzes Haar, hochgewachsene schlanke, sehr weibliche Figur. Sie trug ein wunderschönes langes Kleid mit einem auffälligen Muster aus roten Blumen und einem sehr weiten Rock. Man konnte einfach nicht nicht hingucken. Doch irgendetwas fehlte, und es dauerte, bis ich begriff ... Auf einmal nahm die Frau Messer und Gabel auf - mit den Füßen. Sie hatte keine Arme; war wohl Contergan-geschädigt. Ich konnte meine Blicke nicht abwenden, da es umwerfend war, wie geschickt sie das Besteck bediente. Ich bewunderte sie im Stillen maßlos dafür. Sie spürte meine Blicke und sah mich ziemlich pikiert an. Ich wäre gerne zu ihr gegangen, hätte mich entschuldigt und ihr erklärt, dass ich sie angucke, weil ich sie so bewundere. Aber diese Blicke hielten mich leider davon ab.

    Aufgrund meiner eigenen mal mehr, mal weniger sichtbaren Gehbehinderung weiß ich selbst, wie nervig es sein kann, wenn die Leute einen anstieren, weil man nicht so "geraten" ist wie der Großteil der Menschen. Als Junge Frau hab ich dann auch schon mal pampig gefragt, ob vielleicht ein Autogramm gewünscht wird. ;-)

    Wenn ich z. B. beim Spaziergang oder beim Einkaufen Rollstuhlfahrern begegne, suche ich meist ganz bewusst ihren Blick. Zum einen als eine Art Solidaritätsbekundung, zum anderen, weil ich es unhöflich fände, über sie hinwegzugucken, nur weil sie mir physisch nicht auf Augenhöhe begegnen können. Doch auch da ernte ich in der Regel leider nur böse Blicke - oder gar keine. Dabei ist es in meinem Stadtteil durchaus üblich, sich zu grüßen, wenn man sich begegnet, auch wenn man sich gar nicht persönlich kennt.

    Wie gesagt: Schwierige Angelegenheit, das Gucken.

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    1. Die Grenze ist da sicher fließend. Aber meiner Erfahrung nach gilt: Menschen möchten nicht angestarrt, sehr wohl aber wahrgenommen werden. Dein Erlebnis mit der Frau ist ja ziemlich speziell; rückblickend ist ja man meistens schlauer, welches Verhalten angemessen gewesen wäre. Aber da sie wahrscheinlich neugierige Blicke gewohnt war, ist sie vermutlich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Deine Aufmerksamkeit durch Deine Bewunderung Ihrer Fähigkeiten ausgelöst worden war. Sie wird zu viele schlechte Erfahrungen gemacht haben.
      Rollstuhlfahrer gucke ich nicht bewusst länger an. Ich denke, sie wollen wie Du und ich so normal wie möglich behandelt werden. Wenn ich sehe, dass ich ihnen behilflich sein kann, spreche ich sie an und tue etwas für sie, wenn es gewünscht wird. Wie bei anderen Menschen auch.

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  3. Das ist sicher die beste Lösung: nicht anstarren, aber wahrnehmen. Und ja, rückwirkend ist man immer viel schlauer. Aber man gewinnt mit der Erfahrung ja auch ein etwas besseres Gespür dafür, was in der jeweiligen Situation gut oder angebracht ist und was nicht.

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  4. Schön, dass wir uns wieder gefunden haben. Mit Freunden werde ich mit Dir jederzeit wieder ein paar Gaffer niederstarren...

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    1. Ja, darüber freue ich mich auch sehr! Nächsten Sommer setzen wir uns in eine Eisdiele und machen ein Starr-Revival :P

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  5. Starren oder gaffen ist meiner Meinung nach so schlimm wie Körperverletzung. Es schmerzt denjenigen, der es ertragen muss. Wenn mich früher meiner Mutter lange ansah, hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Meistens hatte mein Verhalten oder Aussehen ihr Missfallen ausgelöst. Geredet wurde darüber kaum. Das hat mich geprägt. Ich schaue hin, gaffe aber nicht. Wenn ich an eine Unfallstelle komme, schaue ich ob meine Hilfe benötigt wird. Wenn nicht, fahre ich weiter.
    So habe ich vor wenigen Jahren einmal einen verunglückten Motorradfahrer im Arm gehalten bis der Krankenwagen kam. Wir haben den Verunglückten reglos mitten auf der Fahrbahn aufgefunden, nachdem er mit dem Motorrad gestürzt war.
    Jemanden komplett zu ignorieren, ist auch gemein. Es gibt Leute, die wollen auffallen und färben ihr Haar leuchtend Pink oder Grün, tragen überall Piercings usw.. Hier ist Anschauen gewollt, aber ich starre sie nicht an. Man kann ganz normal hinschauen und dann weitergehen.
    Man kann noch stundenlang über dieses Thema schreiben und ich bin froh, dass Du es aufgegriffen hast.
    Liebe Grüße von der Pfälzerin

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    1. Liebe Pfälzerin, ich sehe, dass wir das ganz ähnlich beurteilen. Das freut mich sehr, denn es gibt immer noch zu viele Menschen, die damit ganz anders umgehen und so starren, als würden sie in einen Fernsehbildschirm schauen. Aber wie gesagt: Ich habe das passende Mittel gegen so etwas ;-)
      Verregnete Grüße von der Niedersächsin

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  6. Ich jetzt eigentlich nur hier gelandet, weil ich endlich mal gucken wollte, warum du auf 3 Beinen unterwegs bist.
    Das mit dem Gucken ist ganz schwierig. Von meiner Mutter habe ich gelernt, bloß nicht hinzuschauen, wenn man einen behinderten Menschen sieht. Punks gab es damals noch nicht. Inzwischen denke ich, dass in diesem Fall gucken erlaubt ist. Denn die haben sich ja freiwillig zu ihrem Auftritt entschlossen.
    Aber bei Behinderten ist das etwas anderes ... Ich kann das nur von meiner Warte beurteilen, denn mein Sohn ist mit einer Behinderung geboren. Mich hat das Gucken weniger gestört, als Starren. Und das Fragen weniger, als das heimliche Tuscheln.
    Neugier ist menschlich. Und Menschen mit Behinderung nicht die Norm.
    LG Sabienes

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    1. Dieses Starren finde ich auch grässlich. So etwas braucht kein Mensch. Und was das Fragen betrifft: Da finde ich kommt es darauf an, wie gefragt wird. In meiner Jugend habe ich mir schon mal von nur etwas Älteren so etwas wie "Was hast'n du gemacht?" angehört, gepaart mit einem abschätzigen Blick. Ich habe übrigens gar nichts "gemacht"; was da passiert ist, dürfen sich ein paar Ärzte auf die Fahnen schreiben. Aber es gilt wie so oft: Der Ton macht die Musik: Wenn er mir nicht gefällt, antworte ich auch nicht.
      Liebe Grüße, Ina

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    2. Die Frage, nach dem was du gemacht hast, wird wahrscheinlich deswegen gestellt, weil die Leute meinen, dass du einen Unfall hattest.
      Wie mein Sohn auf die Welt gekommen ist, bin ich von einem kleinen Jungen gefragt worden, ob ich ihn denn geschimpft hätte, als ich gesehen habe, was er angestellt hat ;-) Das fand ich witzig und sehr herzlich. Kinder sind da überhaupt sehr direkt und hören auf Erklärungen.
      LG
      Sabienes

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